Kennst du diesen Fluchtgedanken, sobald etwas beginnt, wirklich gut zu laufen? Weil sich Langeweile einstellt, und weil die Fallhöhe plötzlich unerträglich hoch erscheint? Dieses Gefühl hochzustapeln, auf feinem Sandboden und in einem Gebiet, in dem es ständig stürmt?
Für mich war dieses Gefühl lange Zeit eine Art Lebensgefühl. Es trieb mich immer wieder zu Hoch- und Höchstleistung und gleichzeitig ließ es mich von einer Aufgabe zur nächsten ziehen. Als bräuchte ich stets die Herausforderung und die Gelegenheit, mich immer wieder neu zu beweisen. Ein Zustand der Entspannung bedeutete für mich vor allem, dass sich die Wahrscheinlichkeit erhöhte, etwas zu übersehen und Fehler zu machen – gar durchschnittlich zu werden. Dann doch lieber Alarmmodus und gehen, bevor jemand auf die Idee kam, meine Präsenz in Frage zu stellen.
So bin ich die Karriereleiter nicht aufgestiegen, sondern habe mich auf überschaubarer Höhe kraftvoll von Station zu Station gehangelt. Wie in einem Kletterwald, in dem mir mein Ticket nur Zugang zu einer der vielen Ebenen gewährte, den Blick aber freigab auf das, was über mir passierte. Und irgendwann, als ich hinaufschaute, während ich mich gerade wieder einmal entsicherte, war sie da. Die Frage, ob ich nicht doch mehr Höhe hätte wagen sollen. War die Luft dort oben nicht klarer und die Sicht nicht weiter?
War ich also gescheitert? Das Fräulein in mir, das bekanntermaßen dazu neigt, schnell und mit wenig Gnade zu urteilen, hatte sofort Argumente an der Hand, die nur den Schluss zuließen, dass etwas gehörig schief gelaufen war. Athene sah das natürlich anders. Für sie war mein Lebensweg schlichtweg der Preis für meine Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit.
as war also wahr? Weder das eine noch das andere, wie mir eine Freundin liebevoll aufzeigte. Sie bot mir eine Sichtweise an, auf die sich sowohl Fräulein als auch Athene einlassen konnten. Warum das Leben nicht als Mosaik begreifen? Als etwas, das stetig wächst. Jede neue Erkenntnis und jede Erfahrung ein Steinchen, das sich einfügt in ein Bild unseres Lebens und es zum Wachsen bringt. Ganz egal, ob vertikal oder horizontal.
So bin ich vielleicht auch deshalb immer wieder gegangen, weil noch mehr von mir an die Oberfläche drängte und gelebt werden wollte. Nicht wissend, dass Schrägstrich-Karrieren, wie sie Brené Brown beispielhaft zitiert, ebenso möglich sind. Karrieren also, die unterschiedliche Leidenschaften und Talente von uns vereinen und zur Entfaltung bringen.
Mittlerweile weiß ich es besser. Und Fräulein und Athene sind beruhigt. Denn dieser Schrägstrich in meiner Karriere reduziert auch die Gefahr, mit dem Scheitern an einer Stelle vor dem Scherbenhaufen meines gesamten Schaffens zu stehen. Wenn Diversifizierung auf dem Aktienmarkt als Erfolgsrezept gilt, warum dann nicht auch für unser Berufsleben? Die Diversifizierung von beruflicher Erfüllung quasi. Vielfalt und Ganzheitlichkeit statt Einseitigkeit und Fragmentierung.
Natürlich heißt das nicht, dass man nicht auch vollends in einer Sache aufgehen kann. Es darf aber auch anders sein. Manchmal können wir erst richtig lebendig sein, wenn wir uns nicht nur durch eine Sache definieren, sondern offen sind für das Mannigfache unserer Persönlichkeit. Ich habe das Schreiben für mich entdeckt. Was schlummert noch in dir?
Fräulein Athene
Zum Nach- und Weiterlesen:
Brown, B. ( 2021). Die Gaben der Unvollkommenheit (9. Aufl.). Kamphausen Media.