Eine Frage der Perspektive

Der vielbeschworene Zauber eines jeden Anfangs – was bedeutet der eigentlich in der Lebensmitte? In einer Lebensphase, in der nicht mehr alles neu und verheißungsvoll erscheint, sich aber mit überraschender Intensität wieder eine erwartungsvolle Aufgeregtheit einstellt. Wenn viel geschafft und erreicht, aber noch längst nicht alles ausgelebt ist. Und wenn sich unter die Erschöpfung des Alltags das Bedürfnis nach neuen Erfahrungen und Abenteuern mischt. Gilt das, wovon Hermann Hesse spricht, auch noch in diesem Alter?

„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.“

Ich frage mich, welchen Blickwinkel Hermann Hesse eingenommen hatte, als er diese Zeilen schrieb. Schaute er von unten nach oben, sodass die Stufen, als würde man eine Treppe aufsteigen, fortwährend in höhere Sphären führen? Als würden sich Weisheit und Klarheit wie von allein einstellen, wenn man dem Weltgeist folgend nur entschlossen und kühn genug die einzelnen Stufen nahm. Oder schaute Hermann Hesse eher in die Ferne? Frei nach dem Motto: „Es ist nur eine Phase, Hase“? Es kommt und geht auch wieder vorbei. Und wenn es in der einen Phase nicht so gut läuft, ist schon viel geschafft, die nächste zu erreichen.

Nach unten gerichtet war Hermann Hesses Blick wohl nicht. Auch wenn sich mir diese Perspektive aktuell beinah aufzwingt. Denn die ersten Anzeichen körperlicher Auflösung lassen sich nicht leugnen. Ist es nicht ironisch, dass körperliche Reifung, anders als die geistige, am Ende ins Nichts führt? Hatte Hermann Hesse die körperliche Entwicklung einfach ausgeblendet oder war er einfach besser als ich darin, diese offenbare Ambivalenz des Lebens zu umarmen?

Da kann einem schon schwindelig werden. Also erst einmal: Einatmen, Pause in der Fülle; ausatmen, Pause in der Leere. Die Leere, in der vieles wieder möglich erscheint – vor allem Wahrhaftigkeit. „Aus vollem und tiefstem Herzen zu leben bedeutet, sich selbst etwas wert zu sein und sich mit dieser Haltung auf das Leben einzulassen“, so Brené Brown. Ihre Worte sollen mein Mantra sein. Egal, in welche Richtung ich gerade blicke.

Gleichzeitig weiß ich: Wahrhaftig zu leben, ist vielleicht das Schwierigste und zugleich Mutigste in unseren Leben. Es erfordert Courage, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und anzuerkennen. Es braucht eine klare und entschlossene Haltung, wirkliche Entscheidungen zu treffen. Und es ist alles andere als leicht, achtsam und deutlich Grenzen zu setzen, ohne sich emotional zu verschließen. Aber wann, wenn nicht jetzt?

Ich finde, die Lebensmitte ist perfekt dafür, das eigene Leben in diesem Sinne zu gestalten. Genau jetzt ist die Zeit, sich freizumachen. Den eigenen Ambitionen Raum zu geben und darauf zu vertrauen, dass das Leben weiterhin Türen öffnet, wenn wir sie nur erkennen und uns selbst erlauben, die Stufe zu nehmen und einzutreten. Und da sind sie wieder, Herman Hesses Stufen und Räume. Wer hätte das gedacht?

Fräulein Athene

Zum Nach- und Weiterlesen:
Brown, B. ( 2021). Die Gaben der Unvollkommenheit (9. Aufl.). Kamphausen Media. Gallenberger, F. (Regie). 2021. Es ist nur eine Phase, Hase. Majestic Filmproduktion, VIAFILM GmbH & Co. KG.
Hesse, H. (2023). Stufen. (6. Aufl., S. 187). Insel Verlag.