Von Wegen

Meine Teenager-Tochter geht zunehmend ihren eigenen Weg. Wenn sich unsere Wege kreuzen, bin ich glücklich. Meistens jedenfalls:

Sie: Mama, ich will jetzt nicht mit dir darüber reden. Ich hab‘ gleich schlechte Laune wegen dir.
Ich: Von wegen.
Sie: Ist aber so.
Ich: Und es heißt „deinetwegen“.
Sie: Mama, du machst es nur noch schlimmer.
Ich: Kannst du mir nicht auf halbem Wege entgegen kommen?
Sie: Ich beweg‘ mich gerade kein bisschen.
Ich: Dann müssen wir umso mehr reden.
Sie: Mama, jetzt reicht es wirklich.

Da kann einem schon einmal schwindelig werden. Glücklicherweise heißt es, der Weg ist das Ziel. Darauf setze ich jetzt einfach. Was bleibt mir auch anderes übrig. Gleichzeitig weiß ich: Ähnlich wie ich ist meine Tochter auf dem Weg, sich selbst zu finden. Und dieser Weg bringt nicht selten kleinere oder größere Umwege mit sich.

Ein Blick in die Vergangenheit kann so ein Umweg sein. Fräulein Athene entstand beispielweise nicht aus dem Nichts. Sie entwickelte sich über Generationen hinweg. Mit einem feinen Faden an Konflikten und Verletzungen, Gefühlen von Unrecht, Unsicherheit und Ohnmacht, der die Schicksale einzelner Familienmitglieder fest miteinander verwebte. Der Schmerz, den ich in der Gegenwart spürte, war so oftmals auch ein Schmerz meiner Familie aus der Vergangenheit.

Da half nur: ausmisten und durchlüften und das Gewand dieser Schicksalsgemeinschaft aufdröseln. Naht für Naht. Und auch, wenn ich regelmäßig drohe, über dieser Aufgabe verrückt zu werden, lass ich nicht ab. Denn das Band, das meine Kinder und mich verbindet, soll anders sein. Elastischer. Es soll Nähe ebenso aushalten wie Distanz. Je nachdem, wie es gerade notwendig ist. Das ist vielleicht das größte Geschenk, das ich meiner Tochter und mir selbst machen kann. Wohin der Weg meine Tochter schließlich auch führen mag, ihr Weg zu sich selbst soll möglichst kurz sein.

Es war in Rom, der ewigen Stadt, als ich einmal mehr beschlossen habe: Mein Weg hält noch einiges für mich bereit. Ich kam, sah und spürte die unbändige Kraft, mit der Menschen Geschichte formen, sie ausradieren oder ins Scheinwerferlicht rücken. Die Kraft, mit der sie Geschichte neu- oder ganz einfach weitererzählen. Mit der Zeitalter verschmelzen. Kein Zustand ewig – keine Blütezeit, aber auch kein Niedergang. Kein „fertig“ und kein auf ewig eingeschriebenes Ende. Auf das eine folgt stets das andere. Festhalten zwecklos und ebenso unnötig. Dafür die Möglichkeit, immer wieder neu zu denken und zu schaffen. Das Fräulein in mir ist aus dem Staunen nicht herausgekommen und selbst Athene war von so viel Gestaltungsraum beeindruckt. Selbstermächtigung war das Schlüsselwort. Eigene positive Entscheidungen treffen und mit Vertrauen das tun, was uns voranbringt.

Übrigens: Unter den römischen Göttern ist Athene die Minerva. Auch ein schöner Name, finde ich. Dennoch bin ich heilfroh, dass der Name meiner Tochter kein göttlicher Name sein muss. Sie ist auf gutem Wege, ihr Leben wahrhaftig zu leben. Ich habe mich auf den Weg gemacht, ihr dabei ein Vorbild zu sein.

Fräulein Athene

Zum Nach- und Weiterlesen:
Konrad, S. (2020): Das bleibt in der Familie. Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (9. Aufl.). Piper.