Zeit für mich

Ich habe keine Zeit. Grundsätzlich. Mein Kalender ist der Beweis. Ein Eintrag reiht sich an den nächsten. Verbindlich und mit konkreten Erwartungen verknüpft. Den wichtigsten unter allen wichtigen Terminen ist gar eine Erinnerung hinterlegt. Ich haste und hetze, in Gedanken meist schon bei der nächsten Verabredung. Die Bedeutung eines Augenblicks – wenn es gut läuft, erschließt sie sich mir im Nachhinein. Dann, wenn ich es längst verpasst habe, den Moment wirklich zu leben.

Was sagt das über mein Leben? Ist es erfüllt, nur weil es gefüllt ist? Und wie sehr komme ich selbst in meinem Leben eigentlich wirklich vor? Teresa Brücker sagt: „Die Dinge, mit denen wir die meiste Zeit verbringen, das ist unser Leben.“

Nun gut. Die Auswahl scheint bei mir groß. Tagsüber beruhigt mich das. In der Nacht aber, wenn die Gedankenstürme in meinem Kopf mich wieder einmal nicht schlafen lassen, wächst der Zweifel. Lebe ich mein Leben eigentlich für mich oder vor allem in der Erwartung anderer? Bin ich glücklich, wenn ich meinen Werten und Bedürfnisse Raum gebe, oder spüre ich erst dann so etwas wie Ruhe, wenn ich merke, die Anforderungen der Menschen um mich herum erfüllt zu haben? Fühle ich aus mir selbst heraus oder ist es eher die Wertschätzung und Anerkennung von außen, die meine Stimmung leitet?

Mein Zweifel wächst, bis er übergeht in einen Entschluss: Fortan soll es anders sein. Ungefähr so, wie es John Franklin in „Die Entdeckung der Langsamkeit“ handhabt: „Ich nehme ernst, was ich denke und empfinde. Die Zeit, die ich dafür brauche, ist nie vertan.“ Entschleunigung also. Achtsamkeit und Fokus. Eine immense Aufgabe für das Fräulein und Athene in mir. Beide wehren sich – auf ihre jeweils eigene Art:

Fräulein:   
Das klingt schon sehr nach einem Egotrip. Ich bin vielleicht etwas erschöpft – aber Zeit für mich? Auf Kosten anderer? Allein der Gedanke erscheint mir maßlos. Ich habe doch jetzt schon das Gefühl, nichts und niemandem wirklich gerecht zu werden.

Athene:
Ich verstehe die Aufregung nicht. Ich bekomme das alles doch wunderbar hin. Mir macht das alles wirklich nichts aus – ganz im Gegenteil. Migräne liegt in der Familie Und was soll daran falsch sein, groß zu denken und alles zu wollen? Würde ich mir nicht selbst Grenzen auferlegen, wenn ich sie anderen setze?

Also ziehe ich die Zeit umso mehr auf meine Seite. Ich mache sie zu meiner Verbündeten, zu meiner Vertrauten und Mutmacherin. Ich schätze sie wert, hege sie und verteidige sie. Sie im Gegenzug gibt mir die Freiheit zurück, über mein Leben selbst zu bestimmen.

Mein Zeitkonto füllt sich dabei zunehmend von allein. Denn wenn ich mich selbst von meinem Anspruch befreie, die vermeintlichen Bedürfnisse anderer erfüllen zu müssen, bleibt auf einmal viel mehr Zeit für das, was mich erfüllt. Faszinierend, findest du nicht?

Fräulein Athene

Zum Nach- und Weiterlesen:
Bücker, T. (2024): Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit (2. Aufl.). Ullstein.
Nadolny, S. (2025): Die Entdeckung der Langsamkeit (58. Aufl.). Piper.
Wardetzki, B. (2022): Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung (3. Aufl.). Kösel.